NSU-Untersuchungsausschuss, Plenum, Potsdam, Widerspruch

Wider einer Komplizenschaft

Eine kurze Bilanz des NSU-Untersuchungsausschusses

Nach der Entdeckung der NSU Mordserie formulierte der Publizist Ralph Giordano: „Da mordet sich quasi spazierengehenderweise eine jugendliche Nazigang ein Dutzend Jahre quer durch Deutschland, ohne dass sie und ihr Netzwerk auffällig werden.“ Als sie endlich aufflogen, „fällt die Bundesrepublik aus allen Himmeln einer Blindheit bis an die Grenze der Komplizenschaft.“

Eine Komplizenschaft Brandenburger Behörden und ihrer Mitarbeiter bezüglich des NSU hat es wohl nicht gegeben. Aber von Blindheit kann man wiederum auch nicht reden. Denn im August und September 1998 – also noch zwei Jahre vor Beginn der Mordserie – erhielt der Brandenburger Verfassungsschutz durch seinen wegen versuchten Mordes verurteilten Spitzenspitzel Carsten S., alias „Piatto“, detaillierte Informationen über das untergetauchte Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Danach waren die drei Rechtsradikalen auf der Suche nach Waffen, um Raubüberfälle zu begehen. Mit dem erbeuteten Geld und falschen Pässen hatten sie vor, sich nach Südafrika abzusetzen. Diese Informationen gab der Brandenburger Verfassungsschutz an die Verfassungsschutzämter Thüringens und Sachsens sowie an das Bundesamt für Verfassungsschutz weiter, nicht aber in strafprozessual verwertbarer Form an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden. In Frage gekommen wären hier die Staatsanwaltschaften in Chemnitz oder Jena sowie das Landeskriminalamt Thüringens.

Das ist umso verwunderlicher, als doch der Sachbearbeiter „Terrorismus“ der Brandenburger Behörde in einem Vermerk den Sachverhalt als rechten Terrorismus charakterisiert und eine Weitergabe an die Strafverfolgungsbehörden angemahnt hatte. Der Brandenburger Verfassungsschutz hat sich bewusst dagegen entschieden. Er wollte seine Quelle „Piatto“ nicht Preisgeben. Das war rechtswidrig, denn er wäre nach dem geltenden Verfassungsschutzgesetz und nach der einschlägigen Norm des Strafgesetzbuches dazu verpflichtet gewesen. Ob bei einer Weitergabe das Trio vor der Begehung des ersten Mords hätte gefasst werden können, ist reine Spekulation. Fakt ist aber: Das rechtswidrige Unterlassen der Übermittlung der Informationen hat die Ergreifung des Trios zumindest erschwert. Hier liegt die Verantwortung Brandenburgs. Insofern ist der Vorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass das Land Brandenburg eine Summe in den NSU-Opferfond einzahlen sollte, zu begrüßen.

Weitere Bezüge des Brandenburger Verfassungsschutzes zum NSU, insbesondere durch den Einsatz von V-Leuten, konnten nicht festgestellt werden.

Der Untersuchungsausschuss hat sich darüber hinaus mit drei großen Themenkreisen beschäftigt:

  • Zum Einen mit der Karriere des V-Mannes „Piatto“ (1990–2000).
  • Zweitens mit dem Komplex um den V-Mann Toni Stadler (2001–2005). Hier ging es um die Produktion der rechtsradikalen CD „Noten des Hasses“, auf der zum Mord an Persönlichkeiten wie Rita Süßmuth und Alfred Biolek aufgerufen wird.
  • Und drittens mit den Geschehnissen um die rechte Terrororganisation „Nationale Bewegung“, die Ende 2000/Anfang 2001 eine Reihe von Delikten in und um Potsdam begangen hatte.

Bei allen drei „Fällen“ findet man jedoch eine Art Komplizenschaft zwischen Verfassungsschutzmitarbeitern und sogenannten Vertrauensleuten, also Spitzeln, auf Schritt und Tritt. Sie sind auch eine Geschichte von systematischen Rechtsbrüchen und der Begehung von nicht geahndeten Straftaten durch Spitzel und Beamte des Ministeriums des Innern.

Zum Beispiel stellte Carsten S. Unter Billigung und mit Unterstützung des Brandenburger Verfassungsschutzes das volksverhetzende, für die Idee des „führerlosen Widerstands“ – eine Konzeption, auf deren Grundlage auch der NSU agierte – werbende Szenemagazin „United Skins“ in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg her. Zudem leistete der Verfassungsschutz der Täuschung der Strafvollstreckungskammer Vorschub, damit „Piatto“ frühzeitig aus der Haft entlassen werden konnte.
Im Fall Toni Stadler stiftete der Brandenburger Verfassungsschutz ihn an, eine zweite Auflage der „Noten des Hasses“ zu produzieren. Gleichzeitig versuchte der Verfassungsschutz, Stadler vor Observationen des Berliner Landeskriminalamtes zu schützen.

In den Fällen Stadler und „Nationale Bewegung“ warnten Verfassungsschutzmitarbeiter Unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Trennungsgebots von Geheimdiensten und Polizei vor Wohnungsdurchsuchungen.

Um Straftaten von Mitarbeitern des Innenministeriums und Spitzeln zu verschleiern, kam es zudem zu strafvereitelnden Absprachen zwischen dem Ministerium des Innern, dem Justizministerium und Staatsanwaltschaften. Beispiele dafür sind der Verzicht, den damaligen Landeskriminalamt-Chef Lüders als Beschuldigten im Verfahren wegen des Verrats einer Razzia an die rechte Szene im Kontext der „Nationalen Bewegung“ zu führen sowie die folgenlose Einstellung des Strafverfahrens gegen den Verfassungsschutz-Beamten, der Stadler angestiftet und gewarnt hatte.

Die beispielhaften Vorfälle sind kein Versagen im Einzelfall. Vielmehr sind diese „Verfehlungen“ wie auch die unterlassene Weitergabe der Informationen über das untergetauchte Trio strukturell bedingt. Es ist das V-Leute-System mit seinen Elementen Quellenschutz, Geheimhaltung und langfristige Informationssicherung, das dem „Versagen“ zu Grunde liegt. Insbesondere der Quellenschutz für Spitzel ist der Strafverfolgung systematisch entgegengesetzt und fördert den „Brandstiftereffekt“, den das Bundeskriminalamt bereits 1997 auf Bundesebene kritisiert hatte.

Die Arbeit des Brandenburger Verfassungsschutzes, so ein Ergebnis des Untersuchungsausschusses, war geprägt durch mangelnde Transparenz, mangelnde Reglementierung und fehlende Überprüfbarkeit der Behauptungen einer im geheimen agierende Behörde. Manch einer der gehörten Zeugen bestätigte zudem Heiner Müllers Erkenntnis, wonach die Berufskrankheit der Nachrichtendienste ihre Paranoia sei. Der Verfassungsschutz ist ein Fremdkörper in der Demokratie.

Daraus ergeben sich lang- und kurzfristig drei zentrale Forderungen für die Brandenburger LINKE:

  • Einmal sollte der Verfassungsschutz langfristig durch ein wissenschaftliches Koordinations- und Analysezentrum zur Dokumentation aller Erscheinungsformen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ ersetzt werden. Dieses Zentrum kann dann als Seismograph für demokratiefeindliche Entwicklungen dienen und der Politik Handlungsempfehlungen unterbreiten.
  • Zweitens gehört das V-Mann-(Un)Wesen abgeschafft. Ihr Einsatz ist rechtsstaatlich nicht vertretbar.
  • Zur Verhinderung der politischen Instrumentalisierung der Staatsanwaltschaft muss sich drittens – ganz im Sinne des jüngsten Urteils des Europäischen Gerichtshofes zum Europäischen Haftbefehl – dafür eingesetzt werden, das Weisungsrecht der Justizminister gegenüber den Staatsanwaltschaften abzuschaffen.

Die weiteren Forderungen sind im Sondervotum dokumentiert.

Bei aller Diskussion um den Verfassungsschutz und die Bekämpfung rechter Umtriebe darf jedoch eine Erkenntnis nicht aus dem Blick verloren werden: Rassismus, Rechtsradikalismus und Menschenfeindlichkeit Besitzen zuerst gesellschaftliche Ursachen. Das gilt für den Rechtsradikalismus der 90er Jahre ebenso wie für die heutige Zeit. Die Ursachen werden in der einschlägigen soziologischen Literatur (Eribon, Heitmeyer, Nachtwey, Quent) diskutiert. Hier müssen Stichworte genügen: Die gegenwärtigen gravierenden sozioökonomischen Veränderungen (Globalisierung, Digitalisierung) gehen einher mit einem weiteren Auseinanderklaffen der sozialen Schere und der Vereinzelung des Einzelnen (Marx). Ganze Regionen werden von gesellschaftlichen Entwicklungen abgehängt. Die Veränderungen führen bei den Menschen vermehrt zu Kontrollverlusten und Abstiegsängsten. Das ist der Nährboden für einen gewaltbereiten Rechtsradikalismus und einen Extremismus der Mitte, der auch seit fünf Jahren im Brandenburger Landtag zu erleben ist. Das Gegenmittel gegen die unheilige Allianz der Biedermänner und Brandstifter ist nicht primär die Stärkung des Repressionsapparats, sondern die Stärkung einer demokratischen Politik des Sozialen.

Publiziert im Widerspruch Juli 2019, Seite 12 f.