Der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer verteidigt das rechtsstaatliche Strafrecht
Junge Welt – Von Volkmar Schöneburg
Die letzten 20 Jahre waren durch gravierende gesellschaftliche Veränderungen geprägt. Dafür stehen Stichworte wie Globalisierung, Neoliberalismus, Digitalisierung oder Agenda 2010. Folgen dieser Entwicklung sind weitere Vereinzelung des Einzelnen (Marx), der Verlust sozialer Bindungen und die Verschärfung der sozialen Spaltung der Gesellschaft. Parallel dazu ist eine Steigerung der Straflust gegenüber Außenseitern und Minderheiten sowie des Bedürfnisses nach Strafrecht in der Gesellschaft zu beobachten, obwohl das staatliche Sündenregister, sprich die Kriminalstatistik, in manchen Bereichen sogar rückläufig ist. Dieser Befund veranlasste Thomas Fischer, ehemals Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und über Juristenkreise hinaus bekannt geworden durch seine ebenso scharfzüngige wie scharfsinnige Kolumne »Fischer im Recht« in der Zeit (nun als »Recht haben« auf Spiegel online), zu einer Abhandlung »Über das Strafen«. Es ist ein lesens- und nachdenkenswerter Rundgang durch das Strafrecht. Der auch schon mal als »Rocker am Gerichtshof« titulierte Verfasser des einschlägigen Kommentars zum Strafgesetzbuch diskutiert Grundbegriffe und -annahmen des Strafrechts wie Wahrheit, freier Wille, Kausalität, Schuld, Rechtsgüter, Tatbestand oder Vorsatz und Fahrlässigkeit, wobei detaillierte Ausführungen zur Strafzumessung fehlen. Thematisiert wird die strafrechtliche Herrschafts- und Freiheitsfunktion, die sich vor allem im Gesetzlichkeitsprinzip zeigt, das Verhältnis staatlichen Strafens zur Moral oder zur Gerechtigkeit.