Drehtürvollzug, Ersatzfreiheitsstrafe, Justizpolitik, Rechtspolitik, Rezension, Strafvollzug

Gefängnisse abschaffen!

Rezension von Volkmar Schöneburg*

Thomas Galli, Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen, Edition Körber, Hamburg 2020, 304 S., 18,– Euro, ISBN 978-3-896-84279-4

Vor etwa fünfzig Jahren war der Strafvollzug in der BRD ein brisantes gesellschaftliches Thema. An den Universitäten gründeten sich im Zuge der 68er Revolte Komitees zur Unterstützung der »Unterprivilegierten«, die in den Gefängnissen saßen. Es wurden »Knastfeste« veranstaltet, mit denen die Aufmerksamkeit auf Missstände in den Gefängnissen gerichtet wurde. »Knackt die Knäste«, war die Parole. Parallel dazu drängten Kriminologen und Strafrechtler auf eine Strafvollzugsreform, die sich nicht wie bisher an Sühne und Vergeltung, sondern am Anspruch der Gefangenen auf Resozialisierung orientieren sollte. Selbst konservative Strafrechtslehrer schrieben im Zusammenhang mit dem Gefängniswesen von einem »steingewordenen Riesenirrtum«. Auch in der Politik gab es für ein solches Reformprojekt Unterstützung. So besuchte Bundespräsident Gustav Heinemann Gefängnisse, sprach von den »Staatsbürgern hinter Gittern« und setzte sich für die Reform ein, die schließlich 1976 in das Strafvollzugsgesetz mündete. Der Gefangene soll in der Haft befähigt werden, zukünftig ein Leben in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten zu führen. So das Ziel des Gesetzes. Im Zuge der Debatten um den Strafvollzug wurden auch radikale gefängniskritische Positionen verstärkt rezipiert. 1976 erschien Michel Foucaults »Überwachen und Strafen«, der Klassiker der soziologischen Gefängniskritik, auf Deutsch. Die norwegischen Kriminologen Nils Christie und Thomas Mathiesen forderten beispielsweise die Abschaffung der Gefängnisse und propagierten eine Konfliktregulierung ohne Strafe oder die Unterstützung der Inhaftierten als Bestandteil der politischen Randgruppenarbeit. Der »Gefängnisabolitionismus« gewann in den Diskussionen in dem Maße an Bedeutung, wie das Resozialisierungsversprechen der Strafvollzugsreformer nicht eingelöst wurde. Er schaffte es sogar in die Programmatik eines Teils der Grünen. Freilich, nur solange sie nicht an Regierungsmacht beteiligt waren.

Ein zentrales gesellschaftliches Thema ist das Gefängnis schon lange nicht mehr. Auch mit der Gefängnisarbeit als politischer Randgruppenarbeit bei den Linken, sieht man von den Aktivitäten der vor wenigen Jahren gegründeten Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) ab, ist es nicht weit her. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Hauptursache liegt jedoch in der Abkehr von einer wohlfahrtsstaatlichen hin zu einer neoliberalen Politik. Der sozialintegrative Wohlfahrtsstaat verschwindet in den neunziger Jahren hinter dem präventiven Sicherheitsstaat, der durch punitive repressive Haltungen dominiert wird. Nichtsdestotrotz ist in den letzten Monaten medial wieder Bewegung in das Thema Knast gekommen. Verknüpft ist dieses Phänomen vor allem mit einem Namen: Thomas Galli. Das hängt nicht zuletzt mit dessen beruflicher Karriere zusammen. Galli arbeitete von 2001 bis 2016 im Strafvollzug, am Ende als Gefängnisdirektor im sächsischen Zeithain. Dann wechselte er desillusioniert quasi die Seiten. Er wurde Rechtsanwalt. Ein Pfarrer müsse ja auch aus der Kirche austreten, wenn er nicht mehr an Gott glaube, schreibt er. Zugleich bringt er seine kritischen Innenansichten auf die »totale Institution« Knast zu Papier. In den Büchern »Die Gefährlichkeit des Täters« (2017) und »Endstation Knast« (2019) erzählt Galli authentische Geschichten über Gefangene, Politiker und Bedienstete, die – gemessen am Resozialisierungsziel – die Absurdität des Gefängnissystems vor Augen führen. Das macht ihn für die Medien interessant. »Ex-Gefängnisdirektor will Haftanstalten abschaffen«. So überschrieb »Der Spiegel« im Mai 2020 ein Interview mit Galli. In seiner jüngsten Arbeit, »Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen.«, vertieft Galli seine Kritik wissenschaftlich-analytisch und formuliert gleichzeitig seine Auffassung von einer grundlegenden Reform des Strafsystems in Deutschland.

Auch wenn die mediale Berichterstattung über Kriminalität etwas anderes suggeriert: Die wenigsten, die sich im Knast befinden, haben gemordet,gebrandschatzt, vergewaltigt oder Kinder missbraucht. Bis zu zehn Prozent der etwa 64.000 Inhaftierten in Deutschland verbüßen eine Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie die gegen sie verhängte Geldstrafe nicht bezahlen können. 40 bis 50 Prozent sitzen wegen Eigentums- und Vermögensdelikten. Wegen Straftaten gegen das Leben sind es sieben und wegen Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gut sechs Prozent. Lediglich elf Prozent der Gefangenen haben eine zu erwartende Haftdauer von mehr als fünf Jahren. Die Population der Gefangenen ist kein Abbild der Gesellschaft. Vielmehr werden primär die Unterprivilegierten, die ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, die Drogenabhängigen, also die Habenichtse weggesperrt.

Öffentlich wahrgenommen wird der Knast gemeinhin nur bei spektakulären Ereignissen wie Ausbrüchen, Gefangenenmeutereien, Sex zwischen Gefangenen und Bediensteten oder gewaltsamen Übergriffen gegen das Personal. Ansonsten ist das Gefängnis für die Allgemeinheit eine Blackbox. Galli wiederum gewährt einen Blick hinter die Kulissen. Er hinterfragt die Strukturen und Rahmenbedingungen des Strafvollzugs und setzt sie zum Resozialisierungsparadigma ins Verhältnis. Das Ergebnis ist ernüchternd. Gefängnis heißt Ausschluss des Gefangenen aus der Gesellschaft. Er wird seiner Autonomie beraubt und gänzlich der Gewalt des Staates ausgeliefert. Alles, was das tägliche Leben betrifft, wird vorgegeben. Jede Kleinigkeit muss beantragt werden. Der Inhaftierte wird entmündigt. Eingesperrt zu sein in einem maximal neun Quadratmeter großen Schlafklo, das jederzeit kontrolliert werden kann, bringt den Verlust fast jeglicher Intimsphäre mit sich. Die Geschlechtertrennung im Strafvollzug bedeutet ferner, dass die Strafgefangenen neben der Freiheitsstrafe zum Zölibat gezwungen werden oder zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse auf das eigene Geschlecht verwiesen sind. Gearbeitet wird hinter Mauern für einen Hungerlohn, ohne Einbeziehung in das Rentensystem. Der Gefangene verlässt den Knast noch ärmer, als er ihn betreten hat. Die niedrige Entlohnung wiederum verhindert auch eine Wiedergutmachung des Schadens gegenüber vielen Opfern. Zudem unterliegt jeder Gefängnisinsasse mehr oder weniger dem Einfluss der im Knast etablierten Suboder Parallelkultur. Oberste Norm ist hier das Gebot des Zusammenhalts der Gefangenen und die Solidarität im Widerstand gegen das Gefängnispersonal. Verpönt sind gewaltfreie Konfliktlösungen. Nach innen herrscht hingegen in der geschlossenen Gefangenengesellschaft, deren Ersatzwährungen Drogen, Tabak, Kaffee und Pornos sind, das Recht des Stärkeren. Bis zu 80 Prozent der Gefangenen sind drogenabhängig, was zu einem florierenden Rauschgifthandel hinter Gittern führt. Es ist nicht verwunderlich, dass die Suizidrate etwa siebenmal höher ist als draußen. Verzweiflung und Protest sind die Motive. Das alles vor Augen ist die Freiheitsstrafe nichts anderes als eine staatlich verordnete De-Sozialisierung. Gallis Fazit ist schonungslos: Gefängnisse verletzen die Menschenwürde (Art. 1 GG). Sie sind weder notwendig noch geeignet, die Kriminalität zurückzudrängen. Ganz im Gegenteil. Die hohen Rückfallquoten aus dem Vollzug Entlassener von zum Teil mehr als 50 Prozent sprechen da eine klare Sprache.

Galli belegt, dass das hehre Ziel der Resozialisierung letztlich unter den strukturellen Bedingungen der »totalen Institution« verfehlt werden muss. All die gut gemeinten und von den Beteiligten mit großem persönlichen Einsatz durchgeführten Resozialisierungsangebote (Aus- und Weiterbildung, Arbeitstraining, Sucht- und Gewalttherapien usw.) mögen im Einzelfall von Erfolg gekrönt sein und zu einer Humanisierung des Strafvollzugs beitragen. Im Endeffekt neutralisieren sie jedoch auf die Gesamtheit gesehen im besten Fall die schlimmsten Auswüchse der Prisonisierung. Wie dünn der Firnis der Resozialisierung ist, belegen die Maßnahmen der Strafvollzugsbehörden während der Corona-Pandemie. Die bestanden nämlich in dem Einfrieren fast aller Resozialisierungsprojekte. Deutlich trat zutage, was Galli betont: Jenseits aller Lippenbekenntnisse sind Sicherheit und Ruhe in den Anstalten die leitenden Motive des Vollzugs. Von den Strafzwecken bleibt dann lediglich die Vergeltung übrig.

Im zweiten Teil seines lesenswerten Buches entwickelt Galli seine Vorstellungen von der Strafe der Zukunft. Dabei verfolgt er eine Vierfachstrategie. Einmal plädiert er für eine abolitionistische Fort-Entwicklung des Strafvollzugs durch eine immer stärkere Angleichung der Haftbedingungen an die allgemeinen Lebensverhältnisse (Stärkung des Offenen Vollzugs und freier Formen der Unterbringung), wie sie der Kriminologe Johannes Feest vertritt. Daneben fordert er Alternativen für die Freiheitsstrafe. Diese könnten der elektronische Hausarrest, die gemeinnützige Arbeit als selbstständige Sanktion oder an Wiedergutmachung und Streitschlichtung orientierte Konfliktlösungsmodelle sein. Dabei kann an den rudimentär praktizierten Täter-Opfer-Ausgleich, aber auch an Erfahrungen der »Restorative Justice« angeknüpft werden. Die präventiven Wirkungen sind allemal besser als die des fantasielosen Einsperrens. Drittens steht Galli für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe und Entkriminalisierungen vor allem im Drogenstrafrecht. Für besonders grausame Taten sieht Galli in seinem Konzept viertens auch eine lebenslange Unterbringung in dorf- oder inselartigen, gegen Fluchtversuche gesicherte Institutionen vor. Als Vorbild dienen ihm die holländischen Longstay-Einrichtungen oder die norwegische Gefängnisinsel Bastöy.

Am überraschendsten, aber nach seiner Argumentation nur konsequent, ist Gallis Vision von einer zukünftigen Trennung von Urteil und strafender Intervention. Danach ist es die Aufgabe des Gerichts, die Täterschaft und das Unrecht der Tat festzustellen. Über die konkret aufzuerlegenden Maßnahmen soll hingegen ein Gremium aus Fachleuten unter Beteiligung von Täter und Opfer entscheiden.

Einige der Vorschläge Gallis werden in Fachkreisen schon länger diskutiert. Ihre Umsetzung wäre unkompliziert. Fragt sich also, warum die herrschende Politik sich solchen Alternativen verweigert? Galli rekurriert in erster Linie darauf, dass das Gefängnis ein (falsches) Symbol der Sicherheit und der Unterscheidung von Gut und Böse sei und den in der Gesellschaft fest verankerten Rachegedanken bediene. Zugleich lebten ganze Berufsgruppen, ähnlich formulierte es Karl Marx, von der Kriminalität, was einer Veränderung entgegenstehe. Um dem Beharren auf der Gefängnisstrafe noch weiter auf den Grund zu gehen, muss diese jedoch noch stärker im Modus der Macht diskutiert werden. Strafrecht entsteht nämlich mit der Entstehung von Herrschaft, ist Instrument der Macht. Es zerstörte und ersetzte, wie der Rechtshistoriker Uwe Wesel es beschreibt, die vorstaatlichen Konfliktlösungen, die kompensatorisch, kompromisshaft und befriedend wirkten (!). Aus der Perspektive der Macht erschließen sich dann weitere Funktionen, die die Abschaffung/Reduktion der Knäste blockieren. Mathiesen nennt zum Beispiel eine Säuberungsfunktion, nach der die unproduktiven Gesellschaftsmitglieder zum Teil im Gefängnis versteckt werden. Zudem verweist er auf eine verschleiernde Funktion. Danach lenken die Dramatisierung der Kriminalität und die Stilisierung des Kriminellen zur einzuschließenden Gefahrenquelle von den eigentlich gefährlichen Handlungen der Mächtigen (Umweltzerstörung, Ausbeutung usw.) und den strukturellen Ursachen für Kriminalität ab. Eine Funktion, die unter den Bedingungen des Neoliberalismus und der Globalisierung an Bedeutung gewonnen hat. Die Spaltung zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren verschärft. Gleichzeitig wurde die Regelungskompetenz des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stark limitiert. Deshalb ist er bestrebt, Handlungsfähigkeit in der Sicherheitspolitik zu demonstrieren und die mit dem sozialen Abstieg und den Kontrollverlust vieler Menschen verknüpften diffusen Ängste zu kanalisieren. Die politische Elite verspricht sich zudem Wahlvorteile von der Dramatisierung der Sicherheitslage und das an das Vergeltungsdenken in der Bevölkerung anknüpfende Demonstrieren von Härte, auch in Form der Gefängnisstrafe.

Gallis Buch ist demgegenüber ein eindringliches Plädoyer für eine rationale Kriminalpolitik. Für deren Durchsetzung bedarf es jedoch des berühmten langen Atems.


* Schöneburg, Volkmar (2020): Gefängnisse abschaffen! In: Marxistische Blätter (Hrsg.): China, Vietnam, Cuba, Chile … Wege des Sozialismus. Heft 6_2020, 58. Jahrgang, Essen: Neue Impulse Verlag GmbH, S. 161-163.