Zur Erinnerung an Christine Weis
Von Volkmar Schöneburg
Es war eine mutige Entscheidung, als sich Christine Weis Ende Oktober 2009 nach 24 Stunden Bedenkzeit entschied, mein Angebot, zukünftig als persönliche Referentin des Justizministers zu arbeiten, anzunehmen. Eine Verbesserung ihrer Stellung als Referentin für Personalfragen des Brandenburger Strafvollzugs war das nicht. Richtig klar wurde mir das bereits bei meiner Amtseinführung. Am neunten November 2009 übernahm ich als erster linker Minister die Leitung des Justizressorts. In dem Ministerium sind mehr als 90 Prozent der leitenden Beamten „Aufbauhelfer“ aus dem Westen. Die letzten zehn Jahre wurde es von der CDU geleitet. Meine Amtsvorgängerin und ihr Staatssekretär lehnten es ab, mir das Ministerium zu übergeben. Das übernahm eine Abteilungsleiterin, ihres Zeichens eine ausgemachte Antikommunistin. Sie führte mich auf der Mitarbeiterversammlung mit den Worten ein, dass ich erst beweisen müsse, ein Demokrat zu sein. Als ich dann unter Berücksichtigung des historischen Datums meine programmatische Antrittsrede hielt, schlug mir seitens der Belegschaft eisiges Schweigen entgegen. Keine Hand rührte sich. Die wenigen Juristen im Ministerium aus der DDR, die ich zum Teil noch aus meiner Studienzeit kannte, vermieden jeglichen Blickkontakt. Die Atmosphäre erinnerte mich später an einen Ausspruch Fritz Bauers, des berühmten Hessischen Generalstaatsanwalts, der so entschieden für die Entnazifizierung der bundesdeutschen Justiz kämpfte. Der hatte gesagt, dass, wenn er abends sein Arbeitszimmer verlasse, es ihm vorkäme, als betrete er feindliches Ausland. Ein ähnliches Gefühl beschlich mich, den „SED Juristen“, der es öffentlich ablehnte, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu klassifizieren. In dieser Situation stand die zierliche Christine demonstrativ an meiner Seite.
Ich kannte Christine, die alleinerziehende Mutter, aus meiner Zeit als Forschungsstudent an der Berliner Humboldt-Universität. Wir arbeiteten beide im Bereich Strafrecht und Kriminologie, aber an unterschiedlichen Lehrstühlen. Wir sahen uns in den Bereichssitzungen und SED-Veranstaltungen. Sie, die nie das Rampenlicht suchte, promovierte einige Jahre vor mir. Nach der Abwicklung weiter Teile der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität 1990/91 nutzte sie die Chance eines beruflichen Neuanfangs im Brandenburger Justizministerium, das gerade aufgebaut wurde. Möglich wurde dies auch, weil der damalige Justizminister Hans-Otto Bräutigam, vordem u.a. als Diplomat Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, einen differenzierteren Blick auf die Juristen aus der DDR besaß. Bleibende Verdienste erwarb sich Christine beim Aufbau der Bewährungshilfe im Land Brandenburg. Zeitweilig leitete sie die Gefängnisse in Potsdam und Luckau, wo Karl Liebknecht bis zum Ausbruch der Novemberrevolution eine Zuchthausstrafe absaß. Insofern war es nur folgerichtig, dass sie mich als Minister drängte, im Januar 2013 im Gedenken an Liebknecht eine Rede vor dem alten Zuchthaus zu halten.
Unsere Wege kreuzten sich nach der Universität Anfang des neuen Jahrhunderts wieder. Sie nun als die verbeamtete Mitarbeiterin des Ministeriums, ich als Strafverteidiger mit dem Schwerpunkt Strafvollzugsrecht. In ihrer Funktion bearbeitete Christine auch Beschwerden der Gefangenen. Bei Konflikten meiner Mandanten mit der Gefängnisleitung versuchte sie zu vermitteln, orientierte auf eine einvernehmliche Konfliktlösung. Dabei waren die Inhaftierten für sie keine Querulanten, denen man sowieso keinen Glauben schenken dürfe. Sie, die Katzen über alles liebte, sah selbst in den „schwersten Jungs“ Menschen mit Würde. Einmal sagte sie mir: „Wenn wir die Gefangenen wie Tiere behandeln, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sie sich wie Tiere gebärden.“ Wohl gelitten war sie mit dieser Haltung im Ministerium nicht. Als ich sie einmal mit meinem Auto aus einem Gefängnis mit nach Potsdam nahm, berichtete sie mir anschließend, dass ihr dies Kritik im Ministerium eingebracht habe. Da standen nicht die verfassungsrechtlich gebotene Resozialisierung, sondern Machtspiele im Vordergrund. Auf der anderen Seite wusste Christine auch um die anspruchsvolle Arbeit der Bediensteten, hatte ein Ohr für deren Sorgen und Nöte, was ihr gerade bei den ostsozialisierten Vollzugsmitarbeitern Sympathien einbrachte. Es war für sie bezeichnend, dass sie darauf drängte, mit mir als Minister an einem Heiligen Abend in ein Gefängnis zu fahren, um mit den Mitarbeitern und Gefangenen ins Gespräch zu kommen.
Eine neue politische Heimat suchte Christine in der SPD. In der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen wollte sie sich einbringen. Die Mehrheit der in dieser Organisation Engagierten war in der Bundesrepublik sozialisiert. Sie hatten zum Teil Probleme mit der Strafrechtlerin aus der DDR, da sie die DDR nur in den Kategorien „Täter“, „schäbiger Mitläufer“ und „Opfer“ denken konnten. Auf solche Weise angeklagt, ließ sie auch diese Partei hinter sich.
Ohne Christine, die später meine Büroleiterin wurde, wäre ich in der „Schlangengrube“ Justizministerium aufgeschmissen gewesen. Sie war, was man heute einen Workaholic nennt. Sie erschien als erste im Büro und verließ es als letzte. Legendär war ihr Schreibtisch, an dem sie zwischen riesigen Aktenbergen oft nur schwer auszumachen war. Christine erklärte mir, wie die Verwaltung im Ministerium tickt. Wie ein Seismograph nahm sie die Stimmung über ihre Raucherpausen auf und informierte mich darüber, dass die Akzeptanz unserer Arbeit im Hause stieg. Ohne solche Kenntnisse nützen auch die besten Visionen nichts. Man scheitert, wenn die Verwaltung einen auflaufen lässt. Darüber hinaus war Christine mir eine unverzichtbare Beraterin in allen Gefängnisfragen. Inhaltlich war sie an zwei Projekten in meiner Amtszeit wesentlich beteiligt, das Justizvollzugsgesetz (2013) und das Jugendarrestvollzugsgesetz (2014). Ersteres hat Thomas Galli, selbst ehemaliger Gefängnisdirektor und gegenwärtig einer der profiliertesten Kritiker der Institution Knast, kürzlich als das fortschrittlichste in Deutschland hervorgehoben. Zu viert, neben mir der Abteilungsleiter, die federführende Referentin und Christine, hatten wir uns in ein Hotel zurückgezogen, um die Endfassung des Gesetzes zu erstellen. Die Idee, erstmals in Deutschland den Vollzug des Jugendarrests auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen und als stationäres soziales Training auszugestalten, hatten Christine und ich gemeinsam entwickelt. Sie war dann in der ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe an der Erarbeitung des Gesetzes unmittelbar beteiligt.
Nach meinem Rücktritt als Minister war ihre fachliche Expertise lediglich bei meinem Staatssekretär, jedoch nicht mehr bei meinem Nachfolger gefragt. Obwohl er auch meiner Partei angehört. Das ist nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Dabei sind es Menschen wie Christine, die unsere Gesellschaft menschlicher machen. Christine Weis verstarb überraschend am 20.06.2021 im Alter von 69 Jahren.