Gegenwärtig ist das im Mai erschienene Buch von Thomas Galli „Weggesperrt“ in aller Munde. Kaum Beachtung fand hingegen sein Ende vergangenen Jahres publiziertes Buch „Knast oder Heimat“. Hier meine Besprechung.
Es ist erwiesen, dass Medien, wenn sie über jede Gewalttat eines mutmaßlichen ausländischen Tatverdächtigen extensiv berichten, die Kriminalität jenseits der konkreten sozialen Ursachen ethnisieren. Damit wird zugleich der Eindruck erweckt, als würde das Land durch „kriminelle Ausländer“ überflutet. Ein solcher, sich der populistischen Empörungsökonomie verschreibender Journalismus schürt die Kriminalitätsfurcht und befördert Ressentiments gegenüber Ausländern, obwohl die Kriminalstatistik dies gar nicht hergibt. In den vergangenen zehn Jahren ist die Kriminalität um 9,1 % zurückgegangen. Lediglich 5,2 % aller Tatverdächtigen im Jahr 2018 stammten aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Befeuert wird jedoch das Narrativ vom „gefährlichen Ausländer“ vor allem durch das politische Agieren der AfD, die in diesem Kontext sich nicht entblödet, von einer „Messereinwanderung“ zu sprechen. Aber auch andere politische Akteure nutzen die von nichtdeutschen Tätern begangenen Straftaten und ihre mediale Widerspiegelung zum Machterhalt und Machtgewinn. Wohl wissend, dass die von ihnen erhobenen Forderungen nach Verschärfung der Asylgesetzgebung, nach mehr Abschiebungen und härteren Strafen („Schluss mit der Kuscheljustiz!“) in einem Klima der Verunsicherung politische Rendite abwerfen. Selbst der der LINKEN zugehörige Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder verstieg sich angesichts von Straftaten syrischer Flüchtlinge in seiner Stadt zu der kruden Aussage, dass das auf Erziehung ausgerichtete Jugendstrafrecht zu milde sei und das Strafrecht überhaupt nicht ausreichend abschrecke.
Gegen diesen politisch-populistischen Missbrauch des sozialen Kriminalitätskonstrukts schreibt Thomas Galli in seinem neuen Buch an. Galli, der mehr als 15 Jahre an herausgehobenen Stellen im Gefängnis arbeitete, ist seit 2016 als Anwalt tätig. Mit seinen Arbeitsschwerpunkten Straf- und Asylrecht weiß er, wovon er schreibt. Wie in seinen früheren Büchern („Die schwere der Schuld“; „Endstation Knast“) sind es acht authentische Geschichten, mit deren Hilfe er ein anderes Bild als das des „kriminellen Flüchtlings“ zeichnet. Da ist beispielsweise Gloria, eine junge Frau aus Nigeria. Ein amerikanisches Ölunternehmen hatte durch eine extensive Förderung des Rohstoffs die Umgebung ihres Dorfes verseucht. Es wurde für die Bewohner immer schwieriger, ihren Lebensunterhalt durch Landwirtschaft aufzubringen. Als Gloria dann noch das grausame Ritual der Genitalverstümmelung bevorstand, flüchtete sie Richtung Europa. Völlig mittellos war ihre Währung für die Schlepper ihr junger Körper. Angekommen in Deutschland lernte sie schnell Deutsch, ging zur Schule und arbeitete in einem Kindergarten. Doch als sie zwei Jahre später ihren achtzehnten Geburtstag feierte, wurde auch ihr Antrag auf Asyl abgelehnt. Damit verknüpft war ein Arbeitsverbot, wodurch sie nicht mehr in der Lage war ihrer Mutter Geld zu schicken. So verkaufte sie sich wieder, diesmal an den schmierigen Betreiber des heruntergekommenen Hotels, das zu einem Flüchtlingsheim umfunktioniert worden war. Als sie die Demütigungen nicht mehr ertrug, vergiftete sie ihren Peiniger, was ihr als „Giftmörderin“ eine lebenslange Freiheitsstrafe einbrachte.
Oder der junge Afghane Danial, der nicht im Auftrag seines Vaters morden wollte und nach Deutschland floh, wo er in einer Band spielte und relativ schnell einen unbefristeten Arbeitsvertrag in einem Fachgeschäft für Musik erhielt. Doch sein Asylantrag wurde abgelehnt, was zum Verlust seiner Arbeit führte. Seine Verwicklung in eine Schlägerei zwischen Afghanen und Pakistani beschleunigte seine brutale Abschiebung in die Heimat. Dort schloss er sich den Taliban an und starb schließlich durch die Hand deutscher Soldaten.
Galli zeigt in seinem packenden Buch, wie die prekären Lebensverhältnisse und der lange Aufenthalt in den Flüchtlingsunterkünften, die ungewisse Perspektive, die soziale Ausgrenzung durch Arbeitsverbote, der zum Teil bürokratische sowie repressive Umgang die Asylsuchenden oft erst in die Kriminalität treibt. Anders herum: Je besser die Bleibeperspektive, je geringer die Kriminalitätsquote. Zugleich wirft Galli grundsätzlichere Fragen auf: Ist es nicht eine Scheingerechtigkeit, wenn wir sehenden Auges Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen, aber jeden Schwarzfahrer mit allem Brimborium vor Gericht stellen? Versagen nicht unsere Strafrechtskategorien von Schuld und Verantwortlichkeit sowie die Annahme einer abschreckenden Wirkung der Strafe angesichts der grausamen Erfahrungen der Flüchtlinge und ihrer Lebensbedingungen in ihrem Gastland? Nicht selten schlägt den Geflüchteten hier das herrschende Recht zum Unrecht aus. Parallel dazu verdeutlicht Galli wiederum konkret am Beispiel des bayerischen Ministerpräsidenten, der auf die bewährte Technik der Skandalisierung des Einzelfalls zurückgreift, wie das Feindbild des „kriminellen Flüchtlings“, im Kampf um die politische Macht instrumentalisiert wird. „Governing through crime“ nennen dieses Phänomen Kriminologen.
Wieweit die Medien aber einer populistischen Empörungsökonomie verhaftet sind, verdeutlicht folgende Begebenheit. Als Galli sein Manuskript einem renommierten Verlag zur Publikation anbot, erhielt er als Antwort: „Positiv konnotierte Flüchtlingsgeschichten sind Kassengift.“ Das sollte gerade zur Lektüre des Buches anregen.
Thomas Galli, Knast oder Heimat? Erzählungen von Recht und Unrecht, Rhein-Mosel-Verlag 2019, 165 S.